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Zurück zum Normalbetrieb: Interview mit Volker Heepen von der NVBW.

Neue Normalität, neue Mobilität: Nach Wochen des Lockdown wurde der regionale Schienenverkehr schrittweise in den Regelbetrieb zurückgeführt. Verantwortlich dafür ist Volker M. Heepen, Geschäftsführer der Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg. Er weiß, dass die Corona-Krise im öffentlichen Nahverkehr damit aber noch lange nicht überwunden ist.

Tätowierte Frau die mit dem Fahrend durch den Park fährt. Die Frau trägt einen Helm und eine Sonnenbrille.

Herr Heepen, ist Ihre Arbeit gerade nicht wie eine Achterbahnfahrt? Erst alles von jetzt auf nachher runterfahren. Und dann wieder langsam hoch, ohne vorher zu wissen, wie’s nach der Steigung weitergeht?

Volker M. Heepen: In der Tat war die Erstellung der Fahrpläne im März zur Aufrechterhaltung der stabilen ÖPNV-Grundversorgung ein riesiger Kraftakt, der innerhalb von drei Tagen bewältigt werden musste. Auch unter Berücksichtigung vieler unbekannter Faktoren wie etwa die möglichen Krankenstände bei Lokführern, Stellwerkern und Werkstattmitarbeitern. Aber wir haben das zusammen mit den Verkehrsunternehmen erfolgreich gestemmt.

Mann mit Brille und grauem Bart.

Seit dem 4. Mai haben die Schulen nach und nach wieder geöffnet. Wie sorgen Sie dafür, dass die Schüler zu den Stoßzeiten genug Abstand halten können? Viele Eltern haben hier ja Bedenken. Vor allem, weil jetzt auch wieder mehr Berufspendler den Zug nutzen.

Wir erheben täglich die Zahl der Fahrgäste. In den modernen Zügen erfolgt die Zählung automatisch, in den älteren Waggons stichprobenartig durch das Personal. Und die Fahrgäste sind aufgerufen, volle Züge zu melden. So können wir bei Bedarf direkt am nächsten Tag zusätzliche Wagen oder Triebfahrzeuge anhängen. Klar ist aber auch, dass diese nicht unbegrenzt verfügbar sind. Außerdem muss sich die Länge des Zugs mit dem des Bahnsteigs decken, um einen sicheren Ein- und Ausstieg zu garantieren.

Genügen denn die Hygienemaßnahmen, um eine Ansteckung im Zug mit dem Corona-Virus auszuschließen?

Zunächst haben wir uns intensiv für die Einführung der Maskenpflicht im ÖPNV eingesetzt. Dann haben wir die erforderlichen Hygienemaßnahmen eingehend mit den Gesundheitsämtern und dem Sozialministerium diskutiert. Die tägliche gesamte Desinfektion eines Zuges ist demnach nicht erforderlich, wohl aber die der Kontaktflächen. Aber auch hier appellieren wir an die Eigenverantwortung der Fahrgäste. Das heißt, die Berührung von Flächen zu vermeiden, nicht ins Gesicht fassen und die Hände regelmäßig zu waschen oder zu desinfizieren.

Welche Bilanz ziehen Sie für den SPNV in Baden-Württemberg seit dem Lockdown Mitte März?

Ich denke, unsere bisherige Vorgehensweise hat sich bewährt. Das primäre Ziel war ja, eine zuverlässige Grundversorgung im regionalen Schienenverkehr aufrecht zu erhalten. Das haben wir erreicht: Unsere Regionalzüge sind aktuell mit einer Pünktlichkeit von 98 Prozent unterwegs. Und das, obwohl wir auf keinerlei Erfahrungswerte mit einer solchen Pandemie zurückgreifen konnten. Und auch bis auf weiteres nicht ausschließen können, dass sich relevante Mitarbeiter in Quarantäne begeben müssen oder erkranken.

Nach Bayern und Nordrhein-Westfalen ist unser Bundesland ja das mit den dritthöchsten Corona-Infektionsfällen. Das hat auch Folgen für die Verkehrsunternehmen. Denn in weniger betroffenen Bundesländern konnte der ÖPNV während der Lockdown-Phase zu 90 Prozent aufrechterhalten werden, bei uns gerade mal zu 50 Prozent bei deutlich verringerten Fahrgastzahlen.

Die Landesregierung hat deshalb schon sehr frühzeitig an einem Rettungsschirm für die Verkehrsunternehmen gearbeitet und diesen jetzt als erstes Bundesland in einer Höhe von 200 Millionen Euro beschlossen. Inzwischen ist der Bund dem Beispiel gefolgt und hat einen Rettungsschirm mit 2,5 Mrd. Euro für den Nahverkehr aufgespannt.

Trotz Corona nutzen viele Pendler weiterhin den ÖPNV. Weil sie wissen, dass sie auf dem Weg zur Arbeit eh bald wieder im Stau stehen und in den Innenstädten keine Parkmöglichkeit haben. Dennoch hat sich das Mobilitätsverhalten durch die Pandemie verändert. Es finden weniger Dienstreisen statt und mehr Menschen arbeiten weiterhin im Homeoffice.

Wir gehen davon aus, dass sich das Verkehrsverhalten durch Corona dauerhaft verändert und die Nutzung des ÖPNV wie auch des Individualverkehrs um mindestens 10 Prozent zurückgeht. Und es werden zusätzliche Verkehrsmittel genutzt: Das Fahrrad erlebt derzeit einen regelrechten Boom und es werden auch wieder mehr Wege zu Fuß zurückgelegt. Ich glaube, dass es zwei bis drei Jahre dauern wird, bis sich unsere Gesellschaft wieder stabilisiert hat. Diese Zeit sollten wir nutzen, um neue Mobilitätsmodelle fest in unseren Alltag zu integrieren.

Die NVBW ist ja die richtige Plattform, um im Auftrag des Verkehrsministeriums die Verkehrswende mit voranzutreiben. Denn Ihre Aufgabe ist nicht nur der Ausbau des SPNV, sondern auch, den Rad- und Fußverkehr zu fördern.

Ja, die Mobilität der Zukunft war schon vor Corona eines unserer großen Themen. Unter Federführung des Verkehrsministeriums haben wir ganz aktuell die Diskussion dazu wieder aufgenommen zusammen mit Verkehrsunternehmen, Gewerkschaften und Wissenschaftlern. Obwohl wir immer noch mit vielen Auswirkungen der Pandemie kämpfen, müssen wir jetzt die nachhaltige und klimafreundliche Mobilität weiter vorantreiben. Dazu gehört auch eine optimale und zukunftsweisende Vernetzung aller Verkehrsmittel.

Vielen Dank, Herr Heepen, für das Gespräch.

Magazin-Artikel veröffentlicht am 16.06.2020