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„Papa, da ist ein Virus, der bringt Leute um.“

Für den Physiotherapeuten Mario Schilhanek beginnt die Arbeit jeden Morgen mit einer Teambesprechung. Die muss er pünktlich erreichen. Sonst läuft ein hochkomplexes System zur Behandlung von Unfallopfern und Menschen mit Herzinfarkt oder Schlaganfall aus dem Ruder. Er ist einer von vielen Menschen, die nicht im Home-Office arbeiten können und auf den Nahverkehr angewiesen sind.

Arzt läuft durch Krankenhausflur. Im Vordergrund steht ein leeres Krankenbett an der Wand.

Zusammen mit gut 20 Kollegen legt Mario Schilhanek den täglichen Behandlungsplan für jeden seiner zwölf Patienten fest. Er ist Physiotherapeut in der Neurologischen Intensiv-Abteilung an einem Akut-Krankenhaus in Stuttgart. Nur durch die reibungslose und zeitlich abgestimmte Zusammenarbeit von Neurologen, Logopäden, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Ernährungsberatern und Pflegern können die Intensiv-Patienten in der Klinik optimal behandelt werden. Der Tagesplan bestimmt etwa, wann Mario Michael, den Schlaganfallpatienten, in eine aufrechte Position setzen muss, damit die Logopädin das Schlucken mit ihm trainierem kann.

Mann mit Brille und Maske sitzt in der Bahn.

Umsteigen ist jetzt schwieriger geworden

Der Physiotherapeut ist zwingend auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen, um die Klinik zu erreichen. Das Auto braucht seine Frau, die ebenfalls im Gesundheitswesen arbeitet. Auch, weil sie vorher noch die Kinder in die Kita fährt. Mario Schilhanek hat feste Arbeitszeiten und nimmt morgens die S1 von Böblingen nach Stuttgart. Die fährt seit der Fahrplanumstellung am 23. März nur noch im Halbstundentakt. Die Uhr hat er seither genau im Blick, damit er die Bahn um 7 Uhr erwischt. Nur so erreicht er rechtzeitig den Bus, in den er an der Haltestelle Feuersee umsteigen muss. Und der jetzt auch nur noch im reduzierten Takt fährt. Wenn er den verpassen würde, müsste der Therapeut den Rest der Strecke zu Fuß gehen. Das würde bedeuten: 25 Minuten Verspätung. Und die fehlenden Informationen aus der Morgenbesprechung mühsam über den Tag verteilt einsammeln. Eine Utopie – erst recht, seit die Corona-Pandemie den Klinikalltag bestimmt.

Veränderter Klinik-Alltag durch Covid-19

Denn die große Runde der Besprechung am Morgen kann jetzt nicht mehr stattfinden. Das Infektionsrisiko für Personal und Patienten muss maximal reduziert werden. Das bedeutet: Abstand halten. Deshalb werden die Tagespläne inzwischen in mehreren räumlich getrennten Teams abgesprochen. Trotzdem muss über zusätzliche Kommunikationswege sichergestellt werden, dass jeder die Informationen hat, die er für die optimale Versorgung seiner regulären Patienten braucht.

Sämtliche Strukturen und Prozesse in der Akut-Klinik sind inzwischen geändert und angepasst. Alles, um Plätze und Geräte für die Behandlung von Corona-Patienten bereitzuhalten. Mario Schilhanek und seine Kollegen sind nicht mehr frei von Angst. Weil noch zu wenig über das neue Virus bekannt ist. Eine neue Dienstanweisung schreibt vor, dass sie jetzt Mundschutz tragen müssen, wenn sie ihre Intensiv-Patienten behandeln. Die Kranken selbst dürfen von ihren Angehörigen jetzt keinen Besuch mehr bekommen.

Noch gibt es genug Schutzausrüstung im Krankenhaus

Seit Tagen werden immer mehr Covid-19-Infizierte eingeliefert. Noch behandeln Freiwillige die Kranken. Mario Schilhanek rechnet damit, dass die Zahl weiter steigt und auch er sich bald um die Corona-Patienten kümmern muss. Er weiß, dass er mit Physiotherapie ihre Lunge mobilisieren und damit belüften kann. Noch gibt es im Krankenhaus genug Schutzausrüstung. Damit ist für ihn das Risiko einer Ansteckung überschaubar, wenn er hochinfektiöse Patienten behandeln muss. Nicht so morgens beim Bäcker. Oder in der S-Bahn. Denn da weiß er nicht, ob die Person neben ihm das Virus in sich trägt oder nicht.

Kommt der Osterhase noch, fragt meine Tochter

Mit der Angst, meint Mario Schilhanek, kann der eine besser und der andere weniger gut umgehen. Deshalb sei es wichtig, sich in dieser Situation gegenseitig zu stützen. Vor allem versucht er, die belastenden Gedanken aus der Arbeit nicht mit nach Hause zu nehmen. Und dann wie immer mit den Kindern zu spielen. Auch wenn ihm das nicht leicht fällt. Aber er möchte, dass seine Kinder so wenig wie möglich unter der veränderten Situation leiden. Die Zwillinge sind zweieinhalb. Zusammen mit ihrer sechsjährigen Schwester sind sie jetzt die einzigen Kinder in der Kita. Sie werden dort notbetreut, weil beide Elternteile in Gesundheitsberufen arbeiten. Die Freunde fehlen ihnen. Mario Schilhanek ist überzeugt davon, dass sich die Sechsjährige ihr Leben lang an diesen Ausnahmezustand erinnern wird. „Papa, da ist ein Virus, der bringt Leute um“, sagte sie neulich zu ihm. Familienfeste wie Ostern fallen jetzt aus. Was wird an Weihnachten sein? Mario Schilhanek hat sich erst mal darauf eingestellt, dass Covid-19 das Leben noch ein halbes Jahr lang prägen wird.

Aktuell gibt es nur präventive Maßnahmen 

In Bahn und Bus achtet Mario Schilhanek konsequent darauf, einen Abstand von zwei Metern einzuhalten. Wenn das nicht möglich ist, schützt er sich mit seiner FFP-3-Maske, die er immer dabei hat. Auch Handschuhe und ein Desinfektionsmittel sind in seiner Tasche. Er fasst nichts an und ist froh, dass die Türen jetzt automatisch geöffnet werden. Der Physiotherapeut beobachtet, dass die meisten Fahrgäste Abstand zueinander halten. Nur manche, die sich kennen, setzen sich zusammen. Das ist nachvollziehbar, meint er. Aber in der aktuellen Situation nicht besonders schlau.

Wir brauchen viel Zeit und Geduld

Mario Schilhanek hofft, dass in seinem Krankenhaus nicht darüber entschieden werden muss, wer weiterleben kann und wer nicht. Das wäre das Schlimmste. Er wünscht sich, dass die Bevölkerung  die Lage ernst nimmt. Und sich korrekt verhält, um die Verbreitung von Corona zu stoppen. Auch wenn es schwer fällt, auf Freizeit mit anderen zu verzichten. Wir brauchen viel Zeit, meint er, um die Krankheit kennenzulernen und Medikamente und Behandlungsmethoden zu finden. Dafür müssen seiner Meinung nach alle verfügbaren Ressourcen eingesetzt werden. Auch im ÖPNV. Damit wieder mehr Bahnen und Busse fahren für alle, die wie er so dringend an ihren Arbeitplatz müssen. 

Die Schicht von Mario Schilhanek endet zwischen 15:45 und 16:30 Uhr. Je nachdem, wie er mit der Therapie seiner Patienten fertig geworden ist. Wenn er Glück hat, erwischt er dann gerade noch den Bus. Wenn nicht, muss er jetzt eine halbe, manchmal eine dreiviertel Stunde warten.

Magazin-Artikel veröffentlicht am 02.04.2020